< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 1 Brief 13:    Humboldt an Caroline    Göttingen, 22. Mai 1789   ]


auch dadurch sicherer vor Eitelkeit und Prahlsucht geworden. —
Doch laß mich zurückgehen zu meinem Dorf und meiner kleinen
Einsiedelei. Du weißt gern genau, schriebst Du mir einmal, wo
Deine Lieben sind, ich will’s von mir Dir beschreiben. Denk Dir eine
schroffe, hohe Felsenwand, meist kahl, doch hier und da mit herunter-
rankenden Gesträuchen bewachsen, eine ziemliche Strecke in gleicher
Höhe fort. An dieser liegt Reinhausen, wo ich jetzt bin. Die
Häuser sind bald an den Felsen gelehnt, bald dazwischen ein-
geklemmt. Oben steht eine alte Kirche und weiter hin ein großes
Amt in einem ehemaligen Klostergebäude. In dem Felsen sind
hier und da Nischen, wo sonst Marienbilder standen und auch
wohl ein eingehauenes Kreuz zum Andenken eines Unglücklichen,
der in der Nacht vom Felsen herabstürzte. Wenn man das Dorf
verläßt, tritt man in ein enges Tal, wodurch sich ein kleiner Bach
schlängelt, und zu beiden Seiten sind hohe Berge, ganz mit Eichen
und Buchen bewachsen, wo hier und dort nackte, weiße Felsen
zwischen dem grünen Laube hervorragen. Auf allen Höhen die
herrlichsten Aussichten, auf der einen Seite ein weites großes Tal,
auf der andern eine Kette von Bergen und auf den zwei nächsten
die Trümmer zweier alter Bergschlösser.
Sage, Li, was fehlt Deinem Wilhelm, um in dieser Gegend
und fern von allen gleichgültigen Menschen, nur umgeben von dem
Gedanken seiner Lieben, heiter und glücklich zu sein. Und das bin
ich auch, bin ich von ganzer Seele. Und Du, Du meine teure,
geliebte Li, Du wirst es jetzt auch sein, wirst mit unserer C[aroline]
die süßesten Freuden der Freundschaft schmecken. O! wenn Ihr
dann Arm in Arm miteinander herumgeht und Euch Eurer Nähe,
Eures Genusses freut, dann gedenkt meiner, dann der Tage, da
ich Euch sah, dann erinnere Dich, Li, eines herrlichen Abends, als
wir mit Deinem Vater spazieren gingen und die untergehende
Sonne so schön im Abendrot glänzte. O! nie vergaß ich den

                                                                     42