< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 1 Brief 86:    Humboldt an Caroline    Berlin, [Datum fehlt]   ]


Menschen gesehen zu werden, den man nicht zu dem Grade auch
schätzt und liebt. Und welcher Grad muß das überhaupt sein? Ich habe
kaum einen Begriff davon. Der arme D[ominikus]. Lieben kann er
Dich nicht wie ich, und wenn auch die Liebe sein Wesen vernichtete.
Laß mich hier immer über fremde Empfindung absprechen. Ist’s
doch so menschlich, der Stimme zu glauben, die so laut im Innersten
spricht. Aber verdienen mag er Dich wohl mehr wie ich. Ganz?
Nein, ganz verdient Dich niemand, heiliges, wunderbares Wesen.
Aber mehr! Und Du bist mein! Nicht dem Schicksal, nicht einem
Gott, der uns einander gab, nicht mir, selbst Dir dank ich’s nicht,
daß ich Dein bin, Du mein. Die Frage hat keinen Sinn mehr
für mich. Es ist mir, als fragte die Blüte den Baum, warum
er sie trägt. Denn so ist’s doch. Aus Dir sproßt ich hervor, nur
Dein Leben, Deine Schönheit, Deine Fülle glänzt in mir, mit Dir
sink ich sterbend dahin! —

                                                          Freitag
Nur noch ein paar Zeilen heute, meine liebe, gute Li. Ich bekam
heute Deinen Brief . . . Morgen kommst Du schon wieder von
Rudolstadt zurück! Arme Li, nur so wenig Tage, vielleicht läßt
Papa sich bereden. Du wirst Caroline in meiner Seele geküßt
haben. Der liebe, gute Engel. Ich liebe sie so unendlich. Aber
ich kann mit niemand jetzt reden als mit Li. Wahrlich, liebe
Caroline, es ist mir unmöglich, zu schreiben. Laß mir immer diese
wunderbare Stimmung! —
Und nun lebe wohl, mein einzig süßes Wesen. Schicke Dir
ein Liedchen von Meyer, das im Bürgerschen Almanach steht und
mir sehr gefällt. Es hat so einen eigen hinreißend schönen Ton.
Lebe wohl!

                                                                       260