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[   Band 1 Brief 107:    Caroline an Humboldt     [Erfurt], Mittwoch abend, 15. Dezember 1790   ]


gedauerten Moments meines Jammers und meiner Liebe. O, es
ist süß, um sie zu leiden, die goldene Zukunft erhoffend — aber
wenn es die Grenzen der Menschheit überschritte, so wüßt ich
nichts Süßeres, als um sie zu vergehn. Ach, diesen Gedanken gab
uns der Genius der Liebe ein! Mit stillem Entzücken sah ich ihn
in Deiner Seele aufkeimen, Dich immer inniger an ihn heften —
ich schwieg Dir lang, wenn Du noch weißt, ich wünschte zu er-
fahren, ob Du eine andre Möglichkeit in mir ahndetest als die,
Dir zu folgen.


108. Humboldt an Caroline  [Berlin], Donnerstag, 16. Dezember 1790

Der Gedanke, daß ich vor einem Jahr bei Dir war, erfüllt
mich ewig, und bald gibt er mir das Entzücken süßer Er-
innerung, bald umhüllt er mich mit banger Wehmut. Ach!
getrennt von Dir, ist ja kein Leben für mich! Könnt ich einsam
sein und trauern, dann wär mir besser, aber so ewig Geschäfte
oder Gesellschaften. Da fühlt man sich selbst nicht und kann selbst
der Vergangenheit, des Angedenkens Freude nicht genießen. Auch
ist mir in allen Gesellschaften so bang, und den Mann, der einen
Weg zu meinem Herzen fände, seh ich nicht. Gern gesteh ich’s,
daß ich noch keinen kenne, in den mein ganzes Wesen übergegangen
wäre, dessen Geist mich zugleich beschäftigt und dessen Charakter
stark angezogen hätte. Ein solcher Umgang würde mir unendlich
wohl tun. Ich ahnde ihn in Dalberg. Aber ich hoffe nie, ihm so
nahe zu kommen, wenn ich’s käme, dann glaub ich, würde ich an ihm
besitzen, wonach ich mich sehnte. Aber ich sehne mich dann wieder
nur, wenn ich fern bin von Dir. Bei Dir fühlt mein Herz keinen
Mangel, bei Dir vermiß ich nichts, fühl ich jegliche Kraft in
reger, schöner Wirksamkeit. Wohl hat ein schöner, männlicher Geist

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