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[   Band 2 Brief 41:    Humboldt an Caroline    Bordeaux, 24. April 1801   ]


schroffen Ecken benommen und ihnen liebliche Formen gegeben hat,
und der Himmel freundlich und das Klima nicht beschwerlich ist,
so begreife ich vollkommen, wie dem Franzosen sein Vaterland als
die einzige menschliche Erde erscheinen muß, und ich habe mich oft
einiger Verse aus der Deshoulières *) erinnert, von denen der erste
so anfängt: »non l’air n’est point ailleurs si pur, l’onde si claire«
usw., die mir wirklich aus wahrem Gefühl entsprungen scheinen.
Es ist dem Nationalcharakter eigen, die Natur überall zu scheuen,
wo sie sich nur irgend als Macht ankündigt, ewig nur durch Wechsel
gereizt, aber nie ernsthaft ins Interesse gezogen, am wenigsten er-
schüttert werden zu wollen, nie den wirklichen Gegenstand, am
wenigsten einen wahrhaft großen mit dem eigentlichen Gefühl in
Berührung zu bringen, sondern immer nur mit dem leichten Gaukel-
spiel einer leicht-ernsten, nicht schaffenden, sondern nur bildenden
Phantasie zu scherzen. Wer aber an andere Gegenden gewöhnt ist,
dem wird Frankreich in Rücksicht auf Naturschönheit immer nur
wenig gefallen. Der Nordländer findet darin nicht Stoff genug für
seine Einbildungskraft, der Südländer vermißt den üppigen Reiz
zum Genuß, den ihm schon sein bloßes Klima einflößt. Auch
Bokelmanns Deutschheit, die freilich ganz vorzüglich echt ist, hat
sich an diesem Prüfstein bewährt. Es war ihm fast nichts voll-
kommen recht, und ich habe beinah lachen müssen, zu sehen, wie
alle französischen Flüsse immer gegen die Elbe verschwanden, mit
der er alle immer verglich.
Was aber in Frankreich vorzüglich unangenehm ist, ist der
Anblick des Landvolks. In keiner Gegend, die ich wenigstens sah,
findet man unter demselben das kräftige, wackere, wirklich hohe
Achtung einflößende Ansehen, das z. B. in der Schweiz so häufig
ist, am wenigsten aber das eigentümliche, wodurch sich der Land-

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*) Antoinette Deshoulières, französische Dichterin, geb. 1638, schrieb
unter dem Namen Amaryllis.

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