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[   Band 3 Brief 74:    Humboldt an Caroline    Königsberg, 19. Mai 1809   ]


fassen. Der Punkt, in dem in mir, wie ich recht gut fühle das
ausgeht, ist eine nur vielleicht mir in dem Grade ganz eigene Liebe
zur Individualität. Nicht bloß als neuer, als interessanter, als an-
genehmer Gegenstand reizt mich in Menschen und Sachen das Neue,
sondern eigentlich als individueller. Ich will nicht bloß wissen und
empfinden, wie es anders ist, als andere Dinge, nein, sondern wie
es in sich ein Ganzes bildet und sich als solches verhält zum
Ganzen aller Dinge und zum Ganzen aller Möglichkeiten der Dinge.
Diese Liebe zur Individualität der Menschennatur (da doch der
Mensch einmal das ist, auf den sich alles reduziert) liegt in mir
jeder anderen Empfindung zugrunde, macht die von Natur und
(wenn man auch vom Edlen so sagen dürfte) temperamentartig
Starken milde und fähig, als Phantasie und reflektiertes Gefühl zu
erscheinen, verstärkt die natürlich Schwachen und ersetzt sogar in
einigen Fällen den gänzlichen Mangel an Sensation. Was aber
mich eigentlich allein mit dieser Richtung zufrieden macht, ist, daß
nun wirklich auch niemand das, was er liebt und seine Natur im
Innersten anspricht, so tief kennt, so rein bis in seine kleinsten
Nuancen bewundert, und doch so klar und ohne die mindeste
Täuschung durchschaut. Das fühle ich täglich bei Dir, holdes Herz,
und ich bleibe dabei, wenn es möglich gewesen wäre, was eigentlich,
da doch das Innere allein die Welt regiert, nicht möglich war, daß
wir uns nicht getroffen oder nicht verbunden hätten, niemand je
Dich so empfunden hätte als ich!
Dein Brief an Laroche hat mich wieder aufs tiefste gerührt.
Er ist unendlich schön und wird ihn ungemein freuen. Er knüpft
auf eine wunderbare Weise die Gegenwart an unsere erste Jugend-
zeit an, führt Erinnerungen zurück, die doch uns allen immer wert
bleiben, und niemand versteht überhaupt so zu schreiben.
Meine Räte kommen zum Vortrag, lebe herzlich wohl. Doch
noch eine Anekdote. Ein alter Prediger hier kanzelt die Leute oft

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