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[   Band 3 Brief 131:    Humboldt an Caroline    Königsberg, 14. November 1809   ]


und sagte mir noch gestern: »es hätte sie sonst so vor dem Tode
geschaudert, aber jetzt sei das vorüber«. Sie könne keinen Sarg
vorbeitragen sehen, ohne sich in der Phantasie recht lang und ruhig
und bequem darin auszustrecken. Von jeder unbedeutenden Kleinig-
keit kommt sie auf solche Ideen. So hat es mich schon vor
längerer Zeit frappiert, daß sie einmal, als von der Reihe großer
Steine gesprochen wurde, die hier mitten in die Straße gepflastert
ist, auf einmal sagte: »auf der werden immer die Toten getragen«.
Ich habe sie erst kurz vor meiner Reise nach Memel kennen gelernt,
aber gleich bemerkt, daß in ihr etwas hier und an sich Ungewöhn-
liches verborgen sei. Ihr Mann ist auch gebildet und angenehm,
die Kinder, ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge, die sehr
schön sind, sind mir auch gut, und ich gehe jetzt viel ins Haus,
das das einzige ist, in dem man mich bei unserm Weggehen ver-
missen wird. Die Frau ist unglücklich, nicht an sich durch ihre
Lage, aber weil sie niemand um sie her versteht, und sie doch aus
ihrem Kreise nicht herausgehn kann. Ihre größte Eigentümlichkeit
ist ihre leidenschaftliche Liebe zu ihrem Mann. Ihre ganze Art
zu sein, die, da sie durchaus anspruchslos ist, schwer in die Augen
fallen kann, ist sehr anziehend und flößt ein tiefes Mitleid ein;
ich wüßte in langer langer Zeit nicht einer Frau so gut geworden
zu sein und so gewünscht zu haben, etwas für ihr Glück tun zu
können. Ich erzähle es Dir mit Fleiß, liebe Li, weil es Dir lieb
sein wird, daß ich doch einen Umgang habe, wo ich über das
Bessere und Feinere reden kann. Sonst ist alles hier hohl und
trocken und leer, und höchstens noch gut, einen Abend im Spaß
zu verbringen. Aber die Motherby würde, davon bin ich über-
zeugt, auch auf Dich denselben Eindruck machen.
Mit Alexander Rennenkampff *) will ich Dich nicht mehr necken.

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*) Vgl. S. 36.

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