< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 4 Brief 179:    Humboldt an Caroline    London, 18. Junius 1814   ]


179. Humboldt an Caroline                  London, 18. Junius 1814

Nirgends, liebe Li, wird man so inne, daß alle Segnungen
der Erde nichts helfen, wenn die Gnade des Himmels
fehlt. Die Stadt ist hier groß und prächtig, die Menschen
wohlhabend und schön, in tausend Dingen sieht man einen unend-
lichen Reichtum, aber kein blauer Fleck am Himmel, kein Sonnen-
blick. Du hast wirklich keinen Begriff von der Schwärze und
Dunkelheit, und ich glaube nicht, daß Du aushieltest, hier zu leben.
Alles Schöne und Prächtige kommt einem wie ein Geschenk der
Unterwelt vor, wofür der Himmel mit Entziehung seiner herrlichsten
Gaben, des Lichtes und der Wärme, straft. Zwar behaupten
manche Leute, es sei nicht immer, sondern vielmehr selten so.
Indes gestehen die Aufrichtigeren, daß nur der Herbst, höchstens
vom August an schön ist, und was den Verdacht, daß diese wahr
reden, sehr vermehrt, ist, daß man dies abscheuliche Wetter doch
oft einen schönen Sommertag nennen hört. So gern ich hier bin,
sehne ich mich ordentlich nach der französischen Küste, und gar
nicht anders, als wie man aus dem Lande der Kimmerier *) wieder
ins Licht zurückzukehren wünscht. Die Sehnsucht der Maria Stuart,
die in dem schönen Liede **) so rührend ausgedrückt ist, fühlt man hier
erst recht in ihrer Wahrheit, und ich weiß nicht, ob ich den Mut
hätte, ein Wesen wie Caroline z. B. herzuführen, um hierzu-
bleiben. Hier Heimweh zu bekommen oder melancholisch zu werden,
muß fürchterlich sein. Denke aber ja nicht, daß ich dieser Gefahr
nahe bin. Ich gehe mit gesperrten Armen wie die selige Mama
umher und klappere mit den Zähnen, befinde mich aber sonst sehr
wohl und bin sehr heiter. Alexander friert wie ich, ist aber hier

———
*) Fabelvolk im Homer, das am Eingang der Unterwelt in ewiger
Finsternis wohnte.
**) »Eilende Wolken.«

                                                                       354