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[   Band 6 Brief 100:    Humboldt an Caroline    London, 10. Julius 1818   ]


100. Humboldt an Caroline                  London, 10. Julius 1818

Ich bin gestern die Phigalischen Basreliefs, die Du genau
aus den Wagnerschen *) Kupferstichen kennst, durchge-
gangen, obgleich ich sie schon sehr oft im ganzen angesehen
hatte. Ich kenne keine Vorstellung des Altertums, die einen so
zweifelhaft läßt und so immer zweifelhafter macht, je mehr man
sie ansieht, als diese Basreliefs. Auf den ersten Anblick kommen
sie einem als eine rohe, nicht recht ausgeführte Arbeit vor, und
manche halten sie daher für eine spätere Ausführung früherer
Kompositionen, die man nachher nur nachbildete. Daß es mit der
Zeit so sicher stünde, als Wagner in der Vorrede sagt, ist nicht
richtig. Mit den Basreliefs des Parthenon ist die Vergleichung
dieser sehr merkwürdig und hier sehr leicht anzustellen, da sie zum
Teil in demselben Zimmer stehen. In denen des Parthenons ist
auf eine wirklich unbegreifliche Weise die Gestalt in allen ihren
Modifikationen und die Idee vorherrschend. Jeder kleinste Zug ist
auf das Schärfste bestimmt, jeder Strich vollkommen rein; das
fehlt bei weitem in den Phigalischen. In denen vom Parthenon
ist alles fortschreitend, lebendig, froh, es ist ein buntes Gewühl des
mannigfaltigsten und höchsten sinnlichen Lebens, ohne bedeutende
einzelne Empfindung. Die von Phigalea haben trotz der gewalt-
samsten Kämpfe dennoch diesen Ausdruck des Lebens weniger, aber
dagegen einen viel stärkeren der Empfindung. Sie tragen einen
mehr sentimentalen Charakter an sich, der indes auch schon in der
Natur eines Kampfes zwischen Männern und Weibern liegt. Denn
Du wirst auch bemerkt haben, daß in allen Amazonenvorstellungen
auf alten Kunstwerken, sowie der Kampf geendet, der eine ver-

———
*) Johann Martin v. Wagner, geb. 1777, † 1858, Bildhauer, der die
äginetischen Gruppen in Griechenland erwarb. Seine Zeichnungen des
Frieses vom Apollotempel in Phigalia, gestochen von Ruscheweih, waren
1814 in Rom erschienen.

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