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[   Band 6 Brief 100:    Humboldt an Caroline    London, 10. Julius 1818   ]


als hätten sie äußerlich den Umriß der Figur nachzeichnen wollen,
ohne je ihren Begriff zu fassen, ohne je zu dem Punkte zu kommen,
aus dem heraus sie sich von innen selbst bildet und gestaltet. Die
Griechen hatten dafür den schönsten und reinsten Sinn und ebenso
für die Rhythmik in den Tönen, sie lebten wirklich in der Idee
der Natur, nicht in ihrem äußeren vergänglichen Reiz.
Ich bin so ins Schreiben gekommen, süßes Kind, daß das
Blatt fast voll ist, und habe gar noch nicht so von den häuslichen
Dingen gesprochen, die uns beide umgeben.
Ich freue mich ausnehmend, daß Du mit meiner Antwort an
den Staatskanzler zufrieden gewesen bist. Wenn man nicht ganz
unangenehme Dinge sagen will, wie es nie meine Absicht ist, so ist
es immer schwer, die gehörigen Gründe anzugeben, warum man
sich vor gewissen Anstellungen scheut. Viel schlimmer wird es noch
sein, wenn ich, wie doch kommen wird, mit dem König davon
sprechen muß.


101. Humboldt an Caroline                    London, 14. Julius 1818

Ich habe, liebe Li, Deinen Brief von meinem Geburtstag
bekommen. Du bist unendlich lieb und gut, daß Du mir
an dem Tage selbst geschrieben hast, es hat mich innig
gerührt, und die Künstler sind uns sehr gut und uns wahrhaft er-
geben. Wo fänden sie aber auch je eine wie Dich, die Du einen
Anteil an ihnen und ihren Arbeiten nimmst, der rein und un-
mittelbar aus dem Gefühl der Kunst entspringt, und von allen
den Dingen rein und frei ist, die man gewöhnlich die Künste be-
schützen nennt. Sehr geschmerzt hat es mich, Dich noch so leidend
zu wissen. Möchte ich nur wenigstens die Beruhigung haben, bei
Dir zu sein und selbst für Dich sorgen zu können. . . .

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