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[   Band 7 Brief 149:    Humboldt an Caroline    Schulpforta, 14. Dezember 1826   ]


träumen lassen. Die darin entwickelten Ideen scheinen aber wirklich
von der Art, daß sie auf die heterogensten Menschen wirken. Der
sonst bloß in den trockensten Beschäftigungen versenkte Ilgen hat
mir einiges darüber gesagt, was mich wirklich verwundert hat.
Ich bin sehr neugierig, ob Goethe einige Blicke hineingetan haben
wird und ob es bei ihm einige Anregung gefunden hat. Ich
glaube es nicht. Mir ist es bis jetzt die liebste Arbeit, die ich
noch je gemacht habe, und sie kann es leicht bleiben. Ich las das
indische Gedicht zuerst in Herrnstadt und verstand noch vieles darin
nicht. Anderes dämmerte mir nur so im Halbdunkel. Aber ich
werde nie den tiefen Eindruck vergessen, den es mir machte. Ich hatte
so ein wahrhaft dankbares Gefühl gegen das Schicksal, es erlebt
zu haben, solche Töne der Vorzeit zu vernehmen. Das, was man
aus der ganzen Menschheit Neues, Großes oder Eigentümliches in
sich auffaßt, sei es aus dem, was allen angehört im Studium der
Zeiten und Völker, oder sei es im Privatleben in der Beschäfti-
gung mit einzelnen Individuen, das allein ist doch das, was dem
Leben Wert gibt. Reicher und immer reicher und voll inneren,
stillen, über sich selbst brütenden Lebens das Leben zu verlassen,
ist, je näher man dem Augenblick kommt, meiner Empfindung nach,
immer mehr das Ziel, was alle Wünsche verschlingt. Es mag,
um dies ebenso zu empfinden, eine gewisse Innerlichkeit notwendig
sein, die nicht allen Menschen eigen ist und von der es vielleicht
gut sein mag, daß sie nicht allzu viele haben. Ich aber lebe und
webe in ihr, und ich fühle doch, daß sie mich nie hindert und nie
gehindert hat, auch an allem Äußerlichen teilzunehmen, wie es die
Umstände forderten oder erlaubten. Nur freier und unabhängiger
hat mich diese Richtung noch immer erhalten und mir Freuden
gegeben, die sich mit nichts anderem vergleichen lassen. Auch wird
niemand die Welt je so dankbar gegen Menschen und Schicksal
verlassen. Es ist mir durch eine sonderbare Verkettung von Um-

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