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[   Band 5 Brief 93:    Caroline an Humboldt     Berlin, 23. März 1816   ]


sein, man hat einen wunderbaren Zug zu diesem Mann, ich wenig-
stens habe ihn, und es freut mich unendlich, daß Du ihn teilst.
Es spricht mich etwas Göttliches aus seinem Wesen, aus seinen
Zügen an, und das Herz möchte mir vor Wehmut schmelzen,
wenn ich denke und denken muß, daß er doch meist nur von
solchen umgeben ist, die ihren Vorteil an ihm suchen. Das
ganze Leben ist ein wunderbar verworrenes Wesen in seiner
Bedürftigkeit, in seinem dunklen, irdischen Treiben, wenn einem an
einzelnen Gestalten, die sich darin bewegen, ein ganz anderer, ein
Klang wie aus anderer Welt kund wird — so übernimmt’s mich
oft, daß die Menschen gleichsam doppelt sind. — Aber es ist
nicht gut, solchen Grillen nachzuhängen. —
Der Kronprinz, hör ich von einer sehr vorzüglichen Person,
soll seit einiger Zeit Ancillon sehr viel Einfluß über sich gewinnen
lassen. Das ist nicht gut. Die Gräfin Brandenburg *) hat sich
so geäußert, als wenn sie recht eigentlich aus Überdruß an allem,
was in dem inneren Kreise des Hofes vorginge, sich zu entfernen
suchte. Es käme, hat sie gesagt, keine liberale Idee auf, und alles,
was vor drei Jahren die Gemüter bewegt und entzündet hätte, sei
jetzt beinah ein Gegenstand des Spottes geworden.
Ich werde unterbrochen und muß hier schließen.


94. Caroline an Humboldt                        Berlin, 26. März 1816

Die Somnambule habe ich gesehen. Es ist die Witwe eines Pro-
fessor Fischer und allerdings eine höchst merkwürdige Er-
scheinung. Sie ward aus Gram über den Tod ihres Man-
nes krank, lebte an einem kleinen Ort, wo sie niemand zu behandeln

———
*) Gräfin Julie Brandenburg, Tochter Friedrich Wilhelms II. und
der Gräfin Dönhoff, geb. 1793, † 1848.

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