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[   Band 7 Brief 96:    Humboldt an Caroline    Weimar, 15. November 1823   ]


zu viel in ihr, als daß jedes Schöne in ihr etwas in mir finden
könnte, womit es sich gattete. Ich bin nicht unruhig darüber, die
Liebe gibt allen Dingen die Farbe des eigenen Gefühls, und ver-
liert einmal, wenn wir beide alt werden, diese Liebe bei ihr die
Glut, die den Genuß jetzt so schwärmerisch entzückend macht, so
bleibt es ihr, mich durch sie glücklicher zu sehen. Allein immer
werde ich mehr durch sie als sie durch mich genießen.« Die Stelle
hat mich so gefreut, weil es wirklich buchstäblich wahr ist, daß ich
mit jedem Jahre, wo wir zusammenleben, immer mehr in Dir ge-
funden habe und noch finde. Es liegt auf der einen Seite wohl
darin, daß, wer einmal viel ist, dies Viele immer mehr und reicher ent-
faltet, aber es ist auch wahr, daß das Große und Schöne einem
immer größer und schöner erscheint, je inniger man sich daran gewöhnt.
Mit Goethe geht es noch gar nicht gut. Auch heute abend
soll er sich sehr matt und angegriffen gefühlt haben. Ich sah ihn
leider heute gar nicht. Den Vormittag ging ich mit Riemer *)
auf die Bibliothek, nach 9 Uhr. Der Großherzog hatte bestellt,
daß man ihm sagen lassen sollte, wenn ich gekommen sein würde.
Er kam bald darauf, blieb sehr lange mit mir dort, fuhr dann
mit mir nach dem Jägerhause, wo Bilder aufgestellt werden, und
so wurde es drei, als wir zu Hause kamen, und den Abend war
ich im Theater. Ich fürchte mich auch gewissermaßen, bei Goethe
zu sein. Er soll nicht viel sprechen, und meine Gegenwart verleitet
ihn immer dazu.
Das Herumfahren mit dem Großherzog ist sehr pittoresk. Wir
sitzen nebeneinander in einer Droschke und zwischen uns ein schwar-
zer, großer neufundländischer Hund, der über uns beide hervorragt
und alle Augenblicke herauf und herunter springt, und einem mit
seinem Schwanz unter der Nase wegfährt. Vier andere Hunde
laufen um den Wagen herum.

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*) Friedr. Wilh. Riemer, geb. 1774, † 1845, Bibliothekar.

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